Vera Christen
Sozialarbeiterin Frauenhaus Luzern
Der Eintritt in das Frauenhaus ist für Frauen ein riesiger Schritt. Gemeinsam ist ihnen, dass es ihnen - nach den Misshandlungen durch ihren Mann - körperlich und psychisch sehr schlecht geht. Zu den sichtbaren Wunden kommen die unsichtbaren wie psychische Verletzungen: Traumata, Schlafstörungen, Angst und Traurigkeit.
Vera Christen
Mein Tag beginnt mit der Nacht. Wenn ich meinen Frühdienst um 8 Uhr morgens im Frauenhaus Luzern starte, treffe ich mich als erstes mit der Nachtfrau zur Übergabe. Die Nachtfrau ist von 18:30 Uhr bis 8:00 Uhr morgens zuständig für Schutz und Sicherheit der Frauen im Frauenhaus und ebenfalls Ansprechperson, wenn es zu neuen Eintritten kommt.
Die Nachtfrau berichtet mir am Morgen von den Vorkommnissen während ihrer Schicht, von den Befindlichkeiten der Bewohnerinnen und ihren Kindern, von Beratungen am Telefon oder von neu eingetretenen Frauen.
Heute erzählt sie von Corinne, 34 jährig. Die Polizei habe sie um 1:30 Uhr ins Frauenhaus gebracht. Die Nachbarn hätten die Polizei alarmiert, da aus der Wohnung von Corinne Geschrei zu vernehmen war. Die Polizei habe Corinne weinend und aufgelöst angetroffen. Corinne berichtete später, ihr Ehemann habe ihr gedroht, sie mit einem Messer umzubringen. Sie habe sich in der Küche einschliessen können. Der Mann habe daraufhin den Sohn genommen und habe durch die Küchentüre geschrien, er werde den Sohn vom Balkon werfen. Sie sei aus der Küche getreten und habe gesehen, dass der Mann den weinenden Sohn über die Balkon-Brüstung hielt. Er habe wiederholt gedroht, ihn runterfallen zu lassen. Es ist der Polizei gelungen, den Mann von seinem Vorhaben abzuhalten. Die Polizisten hätten der Frau empfohlen, mit dem Kind im Frauenhaus Schutz zu suchen, hätten ihr beim Packen geholfen und sie ins Frauenhaus gebracht.
Frauen bleiben von einer Nacht bis zu mehreren Wochen im Frauenhaus - alles ist möglich. Die Aufenthaltsdauer ist abhängig vom psychischen und physischen Zustand der Frau, ihren Zukunftsplänen, der Gefährdung, dem Wohnungsmarkt. Zusammen mit drei weiteren Sozialarbeiterinnen und zwei Sozialpädagoginnen, die für die Kinder zuständig sind, sorge ich für die sozialarbeiterische Beratung und Begleitung der Frauen im Frauenhaus vom Eintritt bis zum Austritt.
Als Sozialarbeiterin habe ich im Frauenhaus am 1.1.2008 angefangen und bin also nun seit genau 10 Jahren dabei. Ich bin in einem 60% Pensum angestellt; arbeite jeweils von Mittwoch bis Freitag. Ab heute bin ich Bezugsperson auch von Corinne.
Der Eintritt in das Frauenhaus ist für Frauen ein riesiger Schritt. Manchmal informieren sich die Frauen über das Internet und rufen nach langem Abwarten und Abwägen irgendwann an; andere, wie Corinne werden nach massiven Gewaltanwendungen durch den Partner von der Polizei zu uns gebracht. Gemeinsam ist ihnen, dass es ihnen - nach den Misshandlungen durch ihren Mann - körperlich und psychisch sehr schlecht geht. Zu den sichtbaren Wunden kommen die unsichtbaren wie psychische Verletzungen: Traumata, Schlafstörungen, Angst und Traurigkeit.
Ist eine neue Bewohnerin im Haus, so führe ich gleich am Morgen ein Eintrittsgespräch. Bei Bedarf ziehe ich eine Übersetzerin hinzu, das ist bei Corinne nicht nötig, sie ist kaufmännische Mitarbeiterin auf einer Bank. Es geht bei diesem ersten Gespräch darum, Schutz und Sicherheit zu vermitteln - eine erste Stabilisierung zu bewirken - aber auch über Rechte und Pflichten zu informieren und zu schauen, was für die Krisenintervention angezeigt ist. Die Frage ist stets: Was ist notwendig? Was haben Frau und Kinder erleben müssen? Braucht es ärztliche Unterstützung, müssen Polizei oder andere Fachleute beigezogen werden.
Um 12 Uhr essen wir alle gemeinsam zu Mittag. Ich schätze diese Zeit wegen der wertvollen Gespräche, die sich zwischen Kochherd und Mittagstisch ergeben können - ein Vorteil des stationären Betriebs. Manchmal müssen wir uns mit Händen und Füssen verständigen, aber das kann entspannend sein und den Frauen durchaus ein Lachen entlocken.
Mein Nachmittag ist erneut durch die Fallarbeit bestimmt. Nach der ersten Krisenintervention, die durchaus ein paar Tage dauern kann, geht es darum, zusammen mit den Frauen den Weg zu einer gewaltfreien Zukunft zu erarbeiten. Ich zeige den Frauen verschiedene Wege auf. Die Bewohnerinnen bestimmen wie es weiter geht, welchen Weg sie einschlagen möchten. Die Frauen sind meist hin und hergerissen - alle haben viel zu verlieren.
Einige Frauen kehren zu ihren Männern zurück. Persönlich habe ich immer dann grosse Mühe, wenn eine Frau aufgrund struktureller Gewalt, wie beispielsweise wegen eines drohenden Verlusts der Aufenthaltsbewilligung, gezwungen ist, trotz drohender Häuslicher Gewalt zum Mann zurückzukehren. Die Rückkehr zum Mann ist dann eine furchtbare Situation.
Ich weiss, dass wir alle zusammen im Frauenhaus positive, aufbauende Arbeit leisten – dies nicht zuletzt aufgrund vieler Rückmeldungen von Bewohnerinnen.
Wir können die Frauen mit Rat und Tat ein Stück weit begleiten, ihnen Mut machen und ihren Selbstwert stärken. Viele Frauen wagen dann den Schritt in eine neue Zukunft – einige beziehen zum ersten Mal im Leben eine eigene Wohnung. Für mich ist es jeweils ein sehr emotionaler, berührender Moment, wenn sich eine Frau vom Frauenhaus verabschiedet. Schliesslich machen wir Hochs und Tiefs mit und haben ein Stück Lebensgeschichte zusammen erlebt. Das verbindet.
Gespräch und Bild Michael Wicki
Kontakt
Frauenhaus und Bildungsstelle Häusliche Gewalt
Postfach 2616
6002 Luzern 2 Universität
T 041 360 70 00