Marlies Michel

Geschäftsleiterin S&X Sexuelle Gesundheit Zentralschweiz

Vordergründig kommen Personen wegen eines HIV-Tests zu uns - aber dahinter steckt oft mehr. Spreche ich mit einem Klienten über Sexualität, wird es sehr schnell sehr intim.

Marlies Michel

Viele der Personen, die zu uns kommen haben grosse Angst, sich mit HIV oder einer anderen sexuell übertragbaren Infektion angesteckt zu haben - so auch Herr H., der heute Vormittag bei uns war. Seit Tagen hat er nicht schlafen können - gefangen im Gedankenkarussel. Bei der Arbeit hat er sich krank gemeldet.

Einen riesengrossen "Seich" habe er gemacht, erzählt mir Herr H. im sogenannten Vortestgespräch bei dem es darum geht, die individuelle Risikosituation zu besprechen. Er, der doch eigentlich eine glückliche Ehe führe, sei auf dem Heimweg vom Ausgang von einer Frau angesprochen worden. Und dann sei es passiert, er habe mit ihr ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt. 15 Minuten Rausch - danach ein Scherbenhaufen.

Mit solchen Situationen sind mein Team und ich von der Fachstelle Sexuelle Gesundheit Zentralschweiz täglich konfrontiert. Wir unterrichten aber auch an Schulen zu den Themen Liebe, Körper und Sexualität, leisten Präventionsarbeit im Bereich der Sexarbeit und bei vulnerablen Zielgruppen. Daneben bieten wir schwerpunktmässig Beratungen und Tests zu sexuell übertragbaren Infektionen, darunter der HIV- und Syphilis Schnelltest an. Im Jahr führen wir rund 900 Beratungen und Tests durch.

Als Geschäftsleiterin der Fachstelle Sexuelle Gesundheit bin ich Ansprechperson für mein Team bei Fragen zu den jeweiligen Ressorts und zuständig für die Personalführung und für die strategischen Belange. Allerdings bin ich selbst häufig mit Test und Beratungen operativ tätig. Diese Kombination finde ich super - sie macht meine Arbeit so vielseitig.

Personen können telefonisch oder online einen Termin bei uns vereinbaren. Der allmorgendliche Blick in den Kalender schafft mir und meinem Team also einen Überblick über unser Tagesprogramm. Die Test-Beratungen folgen in den Grundzügen dem Ablauf: Vortestgespräch, Blutentnahme und Auswertungsgespräch.

Aber zurück zu meinem heutigen Vormittag.

Herr H. hat den medizinischen Teil, die Blutentnahme, klaglos hinter sich gebracht. Ab und zu kommt es vor, dass es jemandem schlecht wird - unter anderem ein Grund, warum wir in Testzeiten immer mindestens zu zweit auf der Fachstelle sind.

Sobald die Ergebnisse vorliegen, bespreche ich sie mit meinen Klienten. Herr H. ist sichtlich erleichtert, als ich ihm mitteile, dass der Schnelltest negativ ausgefallen ist.

Vordergründig kommen Personen wegen eines HIV-Tests zu uns - aber dahinter steckt oft mehr. Spreche ich mit einem Klienten über Sexualität wird es sehr schnell sehr intim. Auch so bei Herrn H. Er meint dann, nun da er über das Intimste geredet habe, könne er ja auch den ganzen Rest erzählen. Herr H. ist Lehrer. Er erzählt von der Arbeit mit seiner Klasse, die ihn psychisch sehr belaste, zuhause sei er dann oft gestresst, reagiere genervt, wenn seine Frau Nähe suche. Seine Frau möchte gerne ein Kind, er aber wisse nicht, ob er ein guter Vater sein könnte.

Der Druck aus dem Alltag braucht vielfach ein Ventil - manchmal ist das der risikobehaftete Sex. Oft haben Personen nach Risikosituationen grosse Schuldgefühle. Mein Team und ich versuchen im Beratungsgespräch den Kontext für die jeweilige Situation aufzuzeigen. Leisten wir gute Arbeit, so verlassen die Klienten die Fachstelle nach einer Stunde mit weniger Schuldgefühlen und mehr Verständnis für ihre Lebenssituation und vom Korsett, das sie sich oft selbst geschaffen haben.

Wir versuchen, die Risikosituation als sinnhaftes Ereignis umzudeuten - als Zäsur sozusagen, um das eigene Leben grundlegender zu reflektieren und zukünftig anders zu reagieren, primär natürlich mit dem Ziel, dass das Übertragungsrisiko von HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen sinkt.

Die Individualität, die ich täglich sehe, finde ich faszinierend. Jede Person, die zu uns kommt ist anders, jede Geschichte ist einzigartig und jeder Fall hat andere Wurzeln. Ich bin sehr neugierig, Lebensgeschichten interessieren mich. In den 16 Jahren, in denen ich die Fachstelle leite, habe ich vieles erfahren. Ob mich das abgeklärt macht? Im Gegenteil, es rührt mich jeden Tag von neuem, wenn meine Klienten in einer unglaublichen Offenheit aus ihrem Leben, von Freud und Leid und der Schwierigkeit, das Leben zu meistern, erzählen.

Gespräch und Bild Michael Wicki

Kontakt

S&X Sexuelle Gesundheit Zentralschweiz
Museggstrasse 27
6004 Luzern
Tel. 041 410 69 60

https://www.sundx.ch/

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