Birgitte Snefstrup

Geschäftsleitung Verein LISA

Mein Team und ich begegnen den Frauen auf Augenhöhe und lassen Nähe zu. Ich spüre, dass diese Nähe viel Vertrauen und Offenheit schafft.
In ruhigen Momenten sprechen wir mit den Sexarbeitenden über Safer-Sex-Regeln, Empfängnisverhütung oder Kondompannen.

Birgitte Snefstrup

Wenn ich meine Funktion in einem Wort zusammenfassen müsste, wäre das: «Drehscheibe». Ich koordiniere und vermittle Informationen, Anliegen oder Bedürfnisse zwischen den Strassensexarbeiterinnen auf der einen und den Behörden, der Polizei, den Fachstellen, den im Ibach ansässigen Firmen auf der anderen Seite. Das Ziel meines Teams, der Freiwilligen und des Vorstandes von LISA ist, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Strassensexarbeiterinnen zu verbessern.

Im Jahr 2012 wurde der Strassenstrich aus der Innenstadt Luzern an den Stadtrand in das Industriegebiet Ibach gedrängt. In der Nacht ist der Ibach ein verlassener, trostloser Ort. Vorallem fehlt es durch die Abgeschiedenheit an sozialer Kontrolle - dort wo jeden Abend zwischen 15 bis 20 Sexarbeiterinnen ihre Dienste bis tief in die Nacht anbieten. Um der Verlassenheit entgegenzuwirken haben wir vor vier Jahren in Rücksprache mit der Stadt Luzern im Industriegebiet einen Beratungs-Container aufgestellt.
Seitdem leite ich das Projekt unter dem Namen «hotspot» und führe ein Team von neun Mitarbeiterinnen. Dank ihnen kann der Beratungs-Container viermal in der Woche während drei Stunden am Abend offen sein.

Im Büro bin ich meistens früh. Heute Morgen zum Beispiel seit 7 Uhr. Wie immer habe ich mir zuerst die Rapporte meines Teams vom Vorabend angeschaut. Wie ist der Abend verlaufen? Wie viele Frauen haben den Container besucht? Gab es brennende Themen, die ich heute gleich angehen muss? Wie ist die Befindlichkeit meines Teams? Ist es zu nennenswerten Zwischenfällen im Ibach gekommen? Die Antworten auf diese Fragen strukturieren meinen Tag.

Sexarbeit auf dem Strassenstrich ist mit hohen Risiken verbunden. Dazu gehören die gesundheitlichen Risiken wie sexuell übertragbare Geschlechtskrankheiten und Infektionen, ungewollte Schwangerschaften oder körperliche Beschwerden infolge des langen Stehens in der Kälte und der Nässe.

Leider gibt es auch immer wieder Gewalterfahrung durch Freier. Werden Frauen bedroht, ausgeraubt oder gar vergewaltigt, dann nehme ich rasch Kontakt mit der Polizei auf, stehe der betroffenen Frau unterstützend zur Seite und begleite sie bei den nächsten Schritten.

Zum Glück gehört diese Arbeit aber nicht zum Tagesgeschäft. Oft sind es bürokratische Angelegenheiten in Zusammenhang mit Bewilligungsverfahren, Betreibungen, Krankenkassen oder Strafbefehlen, die mich während meiner Bürozeit beschäftigen. Manchmal ist es absurd, mit welchen Anforderungen die Frauen konfrontiert werden. Ich versuche dann, ruhiges Blut zu bewahren und gangbare Lösungen zu finden.

Wichtig ist mir, mindestens ein- bis zweimal pro Monat selber in den Ibach zu fahren und mit der Übersetzerin einen Abend im Container zu verbringen. Ich kann so hautnah erfahren, was die Sexarbeitenden beschäftigt.

Da heute ein Wochentag ist, haben wir die Türen zum Container um 20 Uhr geöffnet. Wie immer drängten sich bald darauf 10, 12 Frauen in den Container. Es war Zeit, um einen Kaffee zu trinken und sich aufzuwärmen. Die meisten Frauen stehen spät auf, essen um 17 Uhr ihre einzige warme Mahlzeit am Tag und kommen so gegen 19 Uhr in den Ibach.

Seit 21 Uhr ist es wieder ruhiger. Die meisten Frauen sind am Arbeiten, einige andere kommen «tröpfchenweise» in den Beratungscontainer.

Mein Team und ich begegnen den Frauen auf Augenhöhe und lassen Nähe zu. Im Winter bieten wir den Frauen eine Tasse Tee an oder wärmen ihre kalten Finger. Ich spüre, dass diese Nähe viel Vertrauen und Offenheit schafft.
Es rührt mich, wenn sie mir dann sagen: «Birgitte, du verstehst.» In diesen ruhigen, privaten Momenten sprechen wir mit den Sexarbeitenden über Safer-Sex-Regeln, Empfängnisverhütung, Kondompannen aber auch über Sicherheit und Gewalt oder über rechtliche Rahmenbedingungen wie Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungen.

Mir und meinen Mitarbeiterinnen hören die Frauen zu, denn: Eigentlich sind wir die einzigen, die von den Frauen nichts wollen.

Gegen 23 Uhr schliessen wir den Container, räumen auf, ziehen den Stecker des kleinen, kitschigen Weihnachtsbaumes und fahren nach Hause. Für den Rapport fasse ich am Laptop noch kurz zusammen, was mich beschäftigt. Einfach einschlafen kann ich nach einem Abend im Container nicht. Meist lese ich also einige Seiten aus einem Roman - ein gutes Mittel «runter zu kommen».

Während ich bei mir das Licht lösche, bieten die Frauen den vorbeifahrenden Freiern noch immer ihre Dienste an. Erst in den frühen Morgenstunden fahren sie mit Taxis in die Stadt oder in die Agglomeration zurück.

Gespräch und Bild Michael Wicki


Kontakt

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6005 Luzern
T 079 502 76 55

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